Die Stimmen Geflüchteter müssen im Bundestag gehört werden

Interview

Tareq Alaows ist 2015 aus Syrien nach Deutschland geflüchtet und wollte in diesem Jahr für Bündnis 90/Die Grünen in den Bundestag ziehen. Nach massiven rassistischen Anfeindungen zog er seine Kandidatur jedoch nach zwei Monaten wieder zurück. Über seine Erfahrungen in dieser Zeit, das Ankommen in Deutschland und die Notwendigkeit, dass Geflüchtete auch im Bundestag vertreten sind, spricht er im Interview.

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Tareq Alaows kandidierte kurzzeitig für Bündnis 90/Die Grünen für den Bundestag.

Tareq Alaows weiß, wie es Menschen geht, die vor Kurzem aus ihrem Heimatland flüchten müssen. Der 32-jährige ist selbst erst 2015 aus Syrien nach Deutschland geflüchtet, um Krieg und Tod zu entkommen. Mit dieser Erfahrung im Gepäck erklärter er Anfang dieses Jahres, dass er in Oberhausen-Dinslaken für die Grünen für den Bundestag kandidieren wolle. Alaows wollte den Geflüchteten ein Gesicht und eine Stimme geben, deren Belange in den Bundestag bringen. Doch es kam anders. Schon zwei Monaten später zog er seine Kandidatur zurück, weil er und seine Familie in Syrien massive Drohungen besonders über die sozialen Medien erhalten hatten.

In Syrien hat Tareq Alaows Jura studiert. Er demonstrierte für eine friedliche Revolution in seinem Heimatland. Er arbeitet für den Roten Halbmond, musste aber als politisch aktiver Jurist sein Land praktisch über Nacht verlassen. Über die Türkei, Griechenland und den Balkan kam er nach Deutschland und wohnte die erste Zeit in einer Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge. In Bochum und in Berlin hat er in psychosozialen Zentren für Folter- und Kriegsüberlebende gearbeitet. Seit 2020 leitet er im Kreuzberger Kunstlabor S27 den Bereich Prävention und Krisenmanagement und berät Geflüchtete bei Asylfragen und -anträgen. Er ist der Mitbegründer der Seebrücke und engagiert sich ehrenamtlich im Flüchtlingsrat.

Zonya Dengi: Du bist vor sechs Jahren aus Syrien nach Deutschland gekommen. Jetzt berätst du hauptberuflich Geflüchtete bei Fragen zum deutschen Asyl- und Aufenthaltsrecht. Wie konntest du dich so schnell in Deutschland zurechtfinden?

Tareq Alaows: Als ich in Syrien Jura studiert habe, war Völkerrecht und internationale Beziehungen mein Schwerpunkt. Wir haben an der Universität unter anderem die EU-Aufnahme-Richtlinien und das Dublin-System durchgenommen. Diese Kenntnisse konnte ich hier vor Ort vertiefen – zum einen als Betroffener, weil ich selbst als Geflüchteter das Asyl-Verfahren durchlaufen musste, und zum anderen durch Weiter- und Fortbildungen in diesem Bereich. Das hat mir sehr geholfen.

Hattest du schon Kontakte zu Menschen, die hier leben, als du nach Deutschland kamst?

Meine Kontakte habe ich mir erst durch meine politische Arbeit hierzulande aufgebaut. Die Begegnungen mit einzelnen Menschen, von denen ich etwas gelernt habe, haben mir das Ankommen in Deutschland erleichtert.

Wie ist es, in Deutschland anzukommen?

Nicht einfach. Die Erwartung an Menschen, die hierherkommen, ist: sie sollen schnell die Sprache lernen und sich in den Arbeitsmarkt integrieren. Aber es gibt kein abgestimmtes Konzept dafür. Man merkt: Die Integrationsgesetze wurden am grünen Tisch entworfen. Sie werden den Geflüchteten diktiert, ohne ihre Lebenswirklichkeit in Betracht zu ziehen. Die Vielfalt unter den Geflüchteten wird nicht wahrgenommen, und man macht sich kein Bild davon, was es für die Menschen bedeutet, in einer Gemeinschaftsunterkunft zu leben. Wie soll man in dieser Art Unterbringung die Sprache lernen? Sind die Menschen dort nicht von der Gesellschaft isoliert? Wie sollen sie sich als Teil dieser Gesellschaft verstehen, wenn sie in diesen Unterkünften nur unter sich sind? Die Verantwortung für eine gelungene Integration liegt meiner Meinung nach auf beiden Seiten. Man muss Perspektiven anbieten, bevor man Regeln diktiert - und zwar realistische Perspektiven. Diese hatte ich mir damals geschafft.

Bist du diesbezüglich eine Ausnahme?

Ich sehe mich nicht als Ausnahme. Aber dass ich politisch aktiv und proaktiv war, hat einiges erleichtert. Kurz nach meiner Ankunft habe ich in Bochum an einem Protestcamp teilgenommen, um auf die unhaltbaren Zustände in der Gemeinschaftsunterkunft aufmerksam zu machen. Ich habe mir die deutschen Gesetze ins Arabische übersetzt und dabei festgestellt, dass da vieles steht, was nicht umgesetzt wird. Wir haben tagelang vor dem Bochumer Rathaus protestiert. Am Anfang waren wir 30 bis 40 Leute, am Ende 250. Man kann nicht von jedem erwarten, dass er sich so engagiert.

Kannst du etwas über dein Leben in Syrien sagen, bevor du 2015 nach Deutschland gekommen bist?

Ich stamme aus einer politischen und akademischen Familie. Mein Vater war Journalist, meine Mutter Buchhalterin. Lesen war meinen Eltern sehr wichtig. Schon mit 13 habe ich auf Empfehlung meines Vaters angefangen, politische Bücher zu lesen. Es war kein Zufall, dass ich Jura studiert und mich auf das Thema Menschenrechte fokussiert habe, sondern eine bewusste Entscheidung. Am Anfang der Revolution habe ich mich an den friedlichen Demonstrationen in Syrien beteiligt. Aber an einem bewaffneten Kampf wollte ich nicht teilhaben. Ich bin deshalb zum Roten Halbmond gegangen und habe mehrere Jahre in Kriegsgebieten gearbeitet. Doch aufgrund meines politischen Engagements in der Revolution, durch meine Arbeit und auch aus religiösen Gründen war ich gezwungen, Syrien innerhalb von wenigen Tagen zu verlassen.

Du bist in Deutschland bei den Grünen eingetreten. Warum fiel deine Wahl auf die Grünen?

Mein erster Kontakt zu einer politischen Partei in Deutschland war zu den Grünen. In Bochum haben sie im Stadtrat damals mit der SPD zusammenregiert. Und wenn ich mir das Wahlprogramm der Grünen anschaue, dann finde ich darin alle Themen, die mir am Herzen liegen. Sie widmen sich der Klimakrise, der sozialen Krise und den Themen Migration und Flucht, und sie sehen, dass alle diese Themen zusammenhängen. Die Grünen sind die erste Partei, die das Thema Vielfalt großgeschrieben und in ihr Statut aufgenommen hat. Ich sehe die Arbeit, die Leute wie Aminata Touré und viele andere da reingesteckt haben und fühle mich mit meinem Migrationshintergrund und meiner politischen Vision bei den Grünen gut vertreten. Da fühle ich mich einfach politisch zu Hause.

Was hat dich dazu bewogen, als Direktkandidat in Oberhausen-Dinslaken für den Bundestag zu kandidieren? Du hattest gute Chancen, in den Bundestag gewählt zu werden.

Das Thema Repräsentation ist mir wichtig. Menschen mit Migrationsgeschichte machen ein Viertel der hiesigen Gesellschaft aus, im Bundestag sind sie aber nur mit 8,2 Prozent vertreten. Es gibt im Bundestag keine Person mit einer aktuellen Fluchtgeschichte. Vielleicht gibt es Politiker, die aus Familien mit Fluchterfahrung stammen, aber diese Erfahrungen decken sich nicht mit den heutigen. Ich halte es für notwendig, dass die Stimme geflüchteter Menschen im Bundestag gehört wird. Deshalb wollte ich kandidieren.

Kann man sagen: Du wolltest die Stimme der Geflüchteten sein?

Ja, das war mein Ziel. Ich war mir natürlich bewusst, dass ich nicht für alle Geflüchteten in diesem Land sprechen kann. Aber ich wollte versuchen, bestimmte Themen, die alle betreffen, in den Bundestag einzubringen. Geflüchtete Menschen sind keine einheitliche Gruppe – sie kommen aus unterschiedlichen Herkunftsländern und unterschiedlichen Kulturen, und haben hier unterschiedliche Herausforderungen zu meistern. Durch meine ca. sechsjährige praktische Erfahrung in diesem Bereich konnte ich viele Erfahrungen sammeln. Diese Erfahrungen wollte ich einbringen. Ich kenne viele der Hindernisse und Hemmnisse, mit denen Geflüchtete konfrontiert sind, und Gesetze, die geändert werden könnten, damit es etwas einfacher für sie wird, in Deutschland anzukommen.

Siehst du deinen Rückzug als eine Art Kapitulation?  

Eigentlich nicht. Ich habe nur verantwortungsbewusst gehandelt. Während der Kandidatur habe ich ein großes Ausmaß an Anfeindungen erlebt: Bedrohungen, aber auch Hass und Rassismus. Meine eigene Sicherheit war in Gefahr, aber auch die Sicherheit derer, die mir nah standen.

Wie massiv waren die Anfeindungen? Und wie haben die sich geäußert?

Nachdem ich meine Kandidatur öffentlich gemacht habe, wurden viele Medien auf mich aufmerksam. Das wiederum rief viele Rechtsextremisten auf den Plan. Schon am ersten Tag gab es massive Beleidigungen, Hass und Bedrohung im Netz. Doch es blieb nicht bei dem Hass im Internet. In der U-Bahn wurde ich einmal von jemanden angeschrien, der mir vorwarf, dass ich die Bevölkerung islamisieren und einen Scharia-Staat in Deutschland einführen wolle. Ich bekam Angst um die Menschen, die mir nahestehen. Außerdem haben meine Nächsten und ich Drohungen und Hassbotschaften aus Syrien erhalten. Syrische Nationalisten sind mit deutschen Rechtsextremen verknüpft. Dies zeigt sich beispielsweise in den Verbindungen der AFD. Diese Bedrohungen aus Syrien verfolgen das Ziel, dass eine Stimme der syrischen Opposition nicht in den Deutschen Bundestag kommt...

Kannst du dir vorstellen, zu einem späteren Zeitpunkt wieder als Kandidat für ein politisches Amt anzutreten?

Meine politische Arbeit geht weiter. Ich werde mich auch weiterhin zivilgesellschaftlich und parteiintern bei den Grünen engagieren. Die Zeit wird zeigen, ob ich einen neuen Anlauf nehme. Trotz meines Rückzugs engagiere ich mich weiter bei der Seebrücke und bin ehrenamtlich im Vorstand des Flüchtlingsrats aktiv. Ich arbeite auch weiter mit Geflüchteten berate sie in Asylangelegenheiten.

Hat der Hass nachgelassen, nachdem du deinen Rückzug erklärt hast?

Die Angriffe sind merklich zurückgegangen, aber sie haben nicht völlig aufgehört. Sobald ich politisch aktiv werde, geht eine Welle von Hass oder Rassismus oder Gewalt im Internet los. Es ist eine traurige Realität, dass marginalisierte Gruppen Hass und Rassismus erleben müssen, einfach nur aufgrund ihrer Herkunft.

Portraitreihe: Repräsentation, Teilhabe, Empowerment

Die plurale Migrationsgesellschaft wird in deutschen Parlamenten weiterhin kaum oder viel zu wenig abgebildet. Das ist ein Problem für die repräsentative Demokratie und für gerechte politische Teilhabe und Partizipation. Mit der Portraitreihe junger Politiker*innen of Color, die sich erstmals auf ein politisches Amt auf Landes- oder Bundesebene bewerben, möchten wir Stimmen und Perspektiven stärken, die im politischen Betrieb immer noch zu wenig repräsentiert und sichtbar sind. Hier geht es zu allen Interviews der Portraitreihe.

Du hast einmal gesagt, dass es in allen Bereichen des Lebens an diskriminierungsfreien Räumen mangele. Was meinst du damit?

Geflüchtete Menschen oder Menschen mit Migrationsgeschichte erleben in Deutschland viel strukturellen Rassismus. Zum Beispiel werde ich als PoC auf der Straße von der Polizei gestoppt, nur, weil ich ein teures Fahrrad habe. Allein aufgrund meines Aussehens werde ich verdächtigt, das Fahrrad geklaut zu haben und ich werde gefragt, ob ich einen Kaufvertrag dabeihabe.

Gesundheitliche Versorgung von Geflüchteten und die Dolmetscherkosten sind andere Themen, die mir wichtig sind. Laut Grundgesetz hat jeder in Deutschland einen Anspruch auf eine angemessene gesundheitliche Versorgung. Die Behörden und Verwaltungen erschweren es Geflüchteten aber, sich bei therapeutischen Behandlungen die Dolmetscherkosten erstatten zu lassen. Manchmal dauert es Monate, bis die Kosten erstattet werden. Ich hatte einen Präzedenzfall, bei dem es acht Monate gedauert hat! Das wiederum schreckt Ärzte ab, Geflüchtete zu behandeln.

Was rätst du jungen und politisch engagierten Menschen? Würdest du sie ermutigen in die Politik zu gehen?

Politische Parteien spielen auf jeden Fall eine große Rolle in unserem politischen Leben. Auch politische Bewegungen und Aktivismus spielen eine große Rolle. Die Grünen sind das beste Beispiel dafür, wie sich Parteien mit politischen Aktivist*innen und NGOs vernetzen können. Parteien können davon profitieren, wenn sie sich mit politischen Bewegungen und NGOs vernetzen und austauschen. Wir sehen, wie strukturiert und wie vernetzt der Rechtsextremismus in Deutschland ist. Dieses Problem können wir nur gemeinsam bekämpfen, das kann nicht eine einzelne Person alleine tun.